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Über das Glück des Gehens.

Fussgeher

„Ich möchte über eine Entdeckung schreiben.“ 

„Und die wäre?“

„Über das Glück des Gehens.“

„Ah, hast du jemand verlassen und fühlst dich jetzt frei?“

„Nein, nein. Ich meine wirklich das Gehen, also das Spaziergehen, das Flanieren, das zu Fuß gehen.“

„Oje, das erinnert mich an meine Kindheit. An die Sonntagsspaziergänge, die mir verhasst waren. Das ist doch Biedermeier pur.“

„Stimmt. Vor 200 Jahren wurde das Spazierengehen populär. Der damalige Instagram-Influencer hieß Spitzweg. Es war damals Ausdruck für den wachsenden bürgerlichen Wohlstand. Vorher leisteten sich so was nur Adlige und Reiche und nannten es „Lustwandeln“. 

„Ok. Dann sind wir uns einig, dass das ein ziemlich spießiges Thema ist?“

„Ja, in den Köpfen von vielen – wie deinem – verbindet man mit ziellosem Gehen keine glücklichen Momente. Und das ist sehr schade. Denn das Gehen an sich ist die beste Form, um seine Gedanken zu ordnen, neue Eindrücke zu sammeln, Ideen abzuwägen, sich in Begleitung angeregt geistig austauschen, sich zu entspannen, runterzufahren, inneren Frieden zu finden, interessante Beobachtungen zu machen, das eigentlich Bekannte neu zu erfahren …“

„Gut, gut. Dann geh mal spazieren und ordne deine Gedanken. Vielleicht interessiert es doch mehr als ich denke.“     

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Spitzweg „Sonntagsspaziergang“

„Ich kann nur beim Gehen nachdenken. Bleibe ich stehen, tun dies auch meine Gedanken“,

Philosoph Jean-Jacques Rousseau

Nein, die Pandemie war nicht der Auslöser meiner Entdeckung des Gehens. Aber sie war der Anstoß dazu, über meine Glückserfahrung damit zu erzählen. Denn einige meiner Freunde und Bekannten erwähnten, dass sie aufgrund der Beschränkungen und der Zeit, die sie im eigenen Haus verbringen mussten, für sich das Spazierengehen entdeckt hatten. Es war für die einen die einzige Möglichkeit, mal rauszukommen und mal für sich zu sein. Andere nutzen den Spaziergang als alternatives Treffen mit Freunden. War man zuvor immer im Café verabredet, ging man jetzt, je nach Möglichkeit, einfach ein oder zwei Stunden durch die Straßen, durch Parks oder am Ufer eines Flusses entlang.

Sie alle bestätigten mir, nachdem ich ihnen sagte, dass ich diese Form des Gehens schon seit meiner Jugend liebe, dass auch sie das gerade für sich entdecken und als extrem wohltuend und bereichernd empfinden würden. 

„Ja, es entschleunigt einerseits, doch anderseits beschleunigt es auch die Ordnung in meinem Kopf.“

erklärte mir eine Freundin. „Genau das!“, sagte ich mir. Gehen oder auch flanieren, also wirklich zeitlich frei und ohne Ziel sich im natürlichsten Tempo zu bewegen, ist mindestens so genial wie Yoga oder Meditation. Aber es ist halt für viele irgendwie spießig. Und auch verdächtig. Wieso? Nun, begegnete ich früher Kolleg:innen bei meinen Spaziergängen durch die Stadt, und erklärte offen was ich tue, belächelnden sie mich meist. Ich denke, dass das viele verschroben, zeitverschwenderisch oder gar als Zeichen dafür erklären, man habe wohl nicht genug zu tun.

Anfänglich glaubte ich, mich dafür rechtfertigen zu müssen. Dann erklärte ich gerne, dass das Gehen viele große Geister beflügelte und es empfahlen. Bei den alten, griechischen Philosophen hatte man Denken und Gehen zu einer Schulform etabliert. Die von Aristoteles gegründete Schule hatte dazu extra eine Wandelhalle (Peripatos). Und Kant, Goethe, Schiller, Nietzsche, Schopenhauer oder Jean-Jacques Rousseau waren leidenschaftliche Spaziergänger. Doch wer findet solche langweiligen, alten Männer schon vorbildlich. 

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Spazieren – Für Hundehalter kein Thema

Deshalb habe ich dann mal etwas recherchiert, ob sich auch heute einige Menschen finden, die meine Begeisterung für das Gehen teilen und versuchen es populärer zu machen.

Ok, auf Instagram bin ich nicht fündig geworden. Schön war zu erfahren, dass das Gehen an sich in der Bevölkerung seit Anfang des Jahrhunderts nicht mehr weiter rückläufig ist. Im Stadtverkehr hält es sich derzeit die Waage mit dem Auto.

„Wenn der Körper in Bewegung kommt, dann kommt auch unser Denken in Bewegung.“ Aus „Gehen“ von Thomas Bernhard

Es gibt ein paar wenige Bücher über das Gehen, über die ich vielleicht ein andermal mehr erzählen kann. Es gibt wissenschaftliche Zweige, die sich z.B. Promenadologie nennen und die Menschen, die dort forschen, nennen sich Spaziergangswissenschaftler. Dass das nicht nur eine fröhliche, sondern auch ernste und nützliche Wissenschaft ist, erfährt man in diesem schon etwas älteren Artikel aus der Zeit. Es gibt auch wissenschaftliche Studien, die die Kreativität steigernde Wirkung des Gehens bestätigen. Und natürlich auch aktuelle Philosophen, wie der Franzose Frédéric Gros, dessen Buch „A Philosophy of Walking“ leider nicht in Deutsch verlegt wurde. Doch wenn ich meine Ergebnisse zusammenfasse, muss ich mir gestehen, dass eine ernsthafte Beschäftigung mit der natürlichsten Fortbewegung des Menschen offenbar ziemlich exotisch ist.

Das eindrucksvollste Engagement im Netz fand ich dann bei Elke Schmid, Regisseurin und Trainerin für Schauspiel und die Kunst des Gehens in Berlin. Zusammen mit dem Performer, Dramaturgen und Philosophen Thomas Schütt hat Elke Schmid in Berlin die ÉCOLEFLÂNEURS gegründet. Schaut am besten mal selbst vorbei. 

Und dort dann entdeckte ich noch Nicola Wessinghage mit ihrem Podcast-Projekt Lob des Gehens. Sie hat offenbar ein ähnliches Bedürfnis bei sich entdeckt, dem Gehen mal mehr Aufmerksamkeit zu widmen und es thematisch in den Mittelpunkt gerückt. Hier findet ihr all ihre Podcast-Folgen, unter anderem auch den mit Elke Schmid.   

Kann man Gehen als neuen Trend ausmachen?

Tatsächlich glauben einige daran, dass Spaziergehen ein Trend aus der Krise ist, der auch danach anhalten wird. Zumindest sagt das der Spaziergangs-Forscher Bertram Weisshaar, der davon ausgeht, „dass der derzeitige coronabedingte Spazierengehen-Trend auch nach der Krise anhält. „In der Zukunft werden mehr Menschen spazieren gehen als in den letzten Jahren“, sagt er in diesem Artikel auf health-tv. Und in einem ganz aktuellen Beitrag des BR, der ebenfalls den Trend aufgreift, erklärt Weisshaar:

„Schritttempo ist die Geschwindigkeit, mit der unser Gehirn am besten Schritt halten kann. Je schneller wir unterwegs sind, desto mehr muss unser Gehirn filtern. Als Fußgänger nehme ich Schatten wahr, einen Windhauch, Gerüche, Geräusche. Mit einem Fahrzeug sind diese Eindrücke nur Fetzen.“

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Walk & Talk – intensive Gesprächserfahrung

Das ist eine wichtige Beobachtung, warum das Gehen uns hilft, achtsamer zu werden. Nicht nur beim Spaziergang allein gegenüber unserer Umgebung und unseren eigenen Gedanken, sondern auch beim Gehen zu zweit beim aufmerksamen Zuhören.

Deshalb gibt es auch Coaches, wie z.B. Sandra Schumacher, die das Besondere am „Walk & Talk“ erkannt haben und dieses mit großem Erfolg in ihrer Arbeit einsetzen. Wie genau das entstanden ist und welche überraschenden Erfahrungen Sandra beim gemeinsamen Gehen und Reden mit ihren Klienten macht, wird sie uns demnächst in einem Interview ausführlicher erzählen. Auf jeden Fall kann auch sie es nur jedem empfehlen.  

Es gibt zudem einige Freunde, mit denen ich das regelmäßig mache. Besonders Freunde, die entfernter wohnen und ich nur selten leibhaftig sehen kann und mich deshalb sehr bewusst an einem dazu geeigneten Ort treffe, z.B. einem See, den wir umrunden oder einem Fluss, an dessen Ufern wir spazieren. Denn es stellt sich jedes Mal wieder raus, dass das die ergiebigsten und befriedigendsten Gespräche sind, die wir führen. 

Und nein, es ist kein Wandern oder Nordic Walking und erst recht kein Sport, sondern immer nur ein zielloses, völlig natürliches, entspanntes Gehen. Die hohe Kunst dabei ist es dann, den ganzen Weg nicht ein einziges Mal das Smartphone gezückt zu haben und dennoch aufgeräumt und voller neuer Ideen und Eindrücken zuhause wieder anzukommen.

Und wie geht’s bei euch so?

Bildquellen: Titel und Spitzweg: wikipedia und Bild mit Hund von n-k auf Pixabay und Paar Manfred Antranias Zimmer auf Pixabay 

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